Der Ausdruck in der Kunst >> Apophänie
Ich hatte vor langer Zeit ein spannendes Gespräch mit einem Kindergartenkind. Er betrachtete eine junge Pflanze, die eben erst spross. Der 5-jährige sah sie verliebt an und meinte: "Sie sieht aus wie eine Ballerina." (rosaLee)
Auszüge aus "Kunst und Sehen" von Rudolf Arnheim
de Gruyter Verlag
S. 391
„Die Tatsache, dass nicht-menschlich Dinge echten Physiognomischen Ausdruck haben, ist von der populären Annahme verschleiert worden, dass ihnen menschlicher Ausdruck nur durch eine Täuschung auferlegt wird, eine ‚pathetic fallecy“, das heißt, ein den Gegenständen irrtümlich angedichtetes Gefühl, oder durch Einfühlung Anthropomorphismus, oder primitiven Animismus. (…) Die Trauerweide sieht nicht traurig aus, weil sie einem traurigen Menschen gleicht, sondern weil Gestalt, Richtung und Biegsamkeit der Zweige den Eindruck des passiven Hängens machen. Da liegt dann der Vergleich mit dem strukturell ähnlichen Zustand des Menschen, den wir Traurigkeit nennen, nahe. (…) Hinter aller Existenz liegen die großen Motive des Steigens und Fallens, der Herrschaft und der Unterordnung, Stärke und Schwäche, Harmonie und Disharmonie, des Kampfes und des Friedens. Wir finden sie in uns selbst und in unseren Beziehungen zu unseren Mitmenschen, in der menschlichen Gemeinschaft und in den Naturereignissen. Die Ausdruckswahrnehmung kann ihren geistigen Sinn nur dann erfüllen, wenn wir in ihr mehr als eine Resonanz unserer eigenen Gefühle erkennen. Durch sie erfahren wir, dass die in uns waltenden Kräfte nur Einzelbeispiele der im Universum wirkenden Kräfte sind.“
Rucksack heult sich bei der Fahrradtasche aus.
S.392
„Manche Objekte oder Vorgänge ähneln einander in bezug auf ihre Kräftegefüge, andere nicht. Unser Auge schafft daher auf Grund ihrer Ausdruckserscheinung spontan ein ‚Linéesches System‘ aller existierenden Dinge. (…) Der Charakter einer bestimmten Person kann aber in seinen Ausdrucksmerkmalen mehr einem besonderen Baum als einem anderen Menschen gleichen. In der menschlichen Gesellschaft können ähnliche Spannungen entstehen wie am Himmel kurz vor Ausbruch des Gewitters.“
Ein scheues Nähkästchen lugt aus dem Schrank heraus.
S. 393
„Zur Weisheit in einer lebendigen Kultur gehört das ständige Bewusstsein von dem symbolischen Gehalt konkreter Vorgänge und die Fähigkeit, im Besonderen das Allgemeine zu spüren. Dadurch erhalten die alltäglichen Dinge eine höhere Bedeutung und Würde und wird der Boden zum Aufblühen der Kunst bereitet. Als pathologisches Extrem zeigt sich dieser spontane Symbolismus für den Psychologen in der ‚Organ-Sprache‘ psychosomatischer oder anderer neurotischer Symptome. Es gibt Menschen, die nicht schlucken können, weil sie irgend etwas in ihrem Leben ‚nicht schlucken‘ können, oder die von einem unbewussten Schuldgefühl gezwungen werden täglich Stunden mit Waschen und Säubern zu verbringen.“